Valerie Fritsch in Irsee

L’invité

+++ Mitteilungsblatt, Gastbeitrag +++ Was ist Ihr liebstes Urlaubsziel? +++ Immer mehr Fälle von subjektiver Destitution in deutschen Ferienwohnungen +++ Komm schon, Herr Jesus! +++

»Ein kleines Krebstier tippelt über den Strand. Es findet eine Muschel und schlüpft hinein. Das neue Haus nötigt dem Krebstier ein anderes Gehen auf. Auch die Fährte im Sand ist jetzt eine ganz andere.«

»In a radical atheist universe, you are not only responsible for doing your duty, you are also responsible for deciding what is your duty. There is always in our subjectivity, in the way we experience ourselves, a minimum of hysteria. Hysteria is the way we question our social symbolic identity, a question addressed at the authority which defines my identity. It is: why am I what you are telling me what I am?«

KAPITEL EINS – Mein Leben als Gast

Der Landgastschreiber erwacht frühmorgens in einer großen Verwirrung. Wo bin ich überhaupt wer wann warum? Er steigt aus dem Bett und zieht die Vorhänge zur Seite. Draußen sickert schwaches Dämmerlicht durch einen tiefgrauen, dichten Nebel, aus dem nur die unmittelbar benachbarten Häuser herausragen. Als wäre der ganze Rest der Welt so früh am Morgen noch nicht ausgestaltet, hochgeladen oder fertig vorgestellt.

Der verwirrte LGS erinnert sich, beim Schauen in den Nebel, wie er einmal als Kind bei einem Schulfreund übernachtet hat und wie er da auch sehr früh morgens aufgewacht ist und ihn die räumliche Verwirrung sehr verängstigt hat. Wie er aufgestanden ist und durch die dunkle Wohnung der Familie des Schulfreundes leise schluchzend hindurchgestolpert ist und in der Küche die Mutter des Schulfreundes angetroffen hat, die an einem geöffneten Fenster Zigaretten rauchte und Kaffee trank und ihren Rauch nach draußen blies, wo es ganz grau und undurchsichtig war wie vor dem Fenster jetzt. Und dass das Kind, das der LGS damals war, dachte, dass es der Rauch war, den die Mutter seines Schulfreundes die ganze Nacht über aus dem Küchenfenster geblasen haben musste, der da jetzt draußen so trübgrau stand und die Sicht auf den Ort verdeckte.

Die Familie des Schulfreundes des Landgastschreibers lebte noch nicht lange im Land und die Mutter des Schulfreundes sprach die Landessprache nur gebrochen und fehlerhaft, wofür sich der Schulfreund schämte, weshalb er in ihrer Abwesenheit beleidigende und respektlose Dinge über sie sagte, die ihn aber sofort selbst sehr traurig machten. Die Mutter des Schulfreundes fragte den Landgastschreiber, als er schluchzend in der Tür zur Küche stand, an deren Fenster sie saß und rauchte, ob er »falsch geträumt« habe. Und das Kind, das der LGS damals war, dachte sofort, dass das doch schlecht heißen muss und nicht falsch und beruhigte sich von diesem Gedanken sofort, hörte auf zu weinen, nickte und beobachtete die Mutter des Schulfreundes, die nach draußen in den Rauch vor dem Fenster schaute und sagte: »nicht schlimm«.

Der Landgastschreiber korrigierte die Mutter des Schulfreundes nicht. Er ging zurück ins Wohnzimmer, wo für die Kinder ein Matratzenlager ausgebreitet worden war, und legte sich wieder hin. Ihm war durch die Frage der Mutter klar geworden, wo er war und wer und wann. Bis der Schulfreund aufwachte und die Vorhänge im Wohnzimmer aufgezogen wurden, lag er wach auf dem Matratzenlager und fragte sich, ob die Mutter vielleicht selbst falsche Träume gehabt hatte und deshalb die ganze Nacht am Fenster rauchte, anstatt zu schlafen. Und ob die traurigen Beleidigungen seines Schulfreundes auch etwas mit diesen falschen Träumen zu tun hatten.

Gegen Mittag ist der Nebel vor dem Fenster so weit zurückgewichen, dass der LGS wieder die gesamte Häuserflucht der Mostackerstraße hinabschauen kann, bis zu dem Punkt, wo sie auf den Schützengraben trifft und von wo eine ausgestorbene Einkaufspassage durch ein paar Wohnhäuser hindurchführt, Abkürzung Richtung Spalentor und schlechtgelegener Standort der Bierbar Pinguin, in der nie jemand sitzt und ein riesiger Gastwirt behutsam Biergläser aus aller Herren Länder poliert. Die Getränkekarte des Pinguin ist ein dicker Leitzordner mit Klarsichtfolien und detaillierten Informationen zu regionalspezifischen Brautraditionen. Der Gastwirt ist ein starker Raucher und empfindet das Gebot, seinen potentiellen Gästen ein dem Gastraum ausgelagertes Separée zum Rauchen anbieten zu müssen, als Geißelung seiner Freiheit.

Der Landgastschreiber ist nur vorübergehend da. Er tut, was das mittlere Substantiv seiner Positionsbezeichnung suggeriert: er hört und schaut anderen dabei zu, wie sie ihre Haltungen und Standpunkte beziehen und ihre Rollen bekleiden – jeweils aus der relativen Sicherheit heraus, zu wissen, wer sie wo wann und warum sind und in welchem Verhältnis sie zu den Geboten und Gesetzen stehen, die an ihren Standorten gelten. Und er fragt sich, ob die Träume, die sie an ihren Standorten träumen, mitunter falsche Träume sein können, die sie so sehr verwirren, dass sie nicht mehr bestimmen können, wer sie wo sind und welche Welt hinter dem Nebel zum Vorschein kommen muss, wenn er sich legt.

Der Landgastschreiber fragt sich außerdem, ob ein Schreiben unter Beobachtung vom Leben handeln kann, als er in die Straßenbahn steigt, die ihn nach Oggenried bringt, zum Vitalis-Sportcenter, wo er eine Trainerstunde in der Tennishalle gebucht hat. Der Trainer, der ihn dort begrüßt, ist ein alter Schweizer mit gelbem Schnurrbart, der vor der Stunde noch rasend schnell zwei Zigaretten in Kette raucht und sich nachher trotzdem sehr leichtfüßig bewegt und zu keinem Zeitpunkt außer Atem kommt. Der rauchende Trainer fragt den LGS, was er denn so beruflich mache und erwidert dann auf die sehr umständliche Antwort, die er bekommt, dass das doch sehr gut passe, das Tennis sei schließlich ein überaus poetischer Sport, in dem es darum gehe, die Zeit außer Kraft zu setzen und die eigenen Dämonen zu bezwingen.    

     

2 Kommentare

  1. Max

    Zum dritten Mal nun „KAPITEL EINS“. Bedeutet zu schreiben immer, etwas zu beginnen? Wann gelingt es dem LGS ein zweites Kapitel anzufangen? Hierzu müsste er das erste Kapitel beenden, doch das will er nicht, er möchte in Rolle des gerade Angekommenen bleiben, mit jedem Beitrag von vorn herantreten an seine Beobachtungen, unbefangen sein. Sich nicht einmischen mit dem Narrativ eines zweiten Kapitels. Wird „KAPITEL EINS“ auch das letzte Kapitel sein?

    • Sarah

      Oder ist es insgeheim 1.3 so wie auch in einem uns bekannten Werk mit indirekten Unterkapiteln gearbeitet wurde?

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